Schreiben: Farwa Ahmadyar & Artur Nickel über die Essener Jugendanthologie

14. April 2024

Ein Beitrag von Matthias Rürup, zuerst veröffentlicht auf seiner Blogseite als Erziehungswissenschaftler (HIER)

Was mich, neben vielen anderen, im letzten Wintersemester sehr beschäftigt gehalten hat, was das Projektseminar „Kreativ-literarisches Schreiben an Schulen“. Im Sommersemester 2023 hatten Kirsten Schindler und ich dieses Seminar noch als Rückblick und Aufarbeitung des „Wuppertaler Schulhausromans“ als ein beachtenswertes Praxisbeispiel umgesetzt (s. meine erste News aus dem letzten Jahr). Im Wintersemester starteten wir nun mit dem eigentlichen Vorhaben: nicht nur analytisch auf Bestehendes oder Ehemaliges zu schauen, sondern zusammen mit den Studierenden im Seminar selbst ins Tun und Gestalten zu kommen. Der Plan war (und ist – schließlich laufen einzelne Schreibangebote aktuell noch), die Studierenden über das Seminar darauf vorzubereiten und dazu zu befähigen, ein eigenes kreativ-literarisches Schreibangebot zu entwerfen und an einer Schule ihrer Wahl umzusetzen. Neben den persönlichen und bei uns, den Dozent:innen, zusammenlaufenden Praxiserfahrungen, die dann reflektiert und für die Weiterentwicklung sowohl der Studierenden als (zukünftige) Lehrer:innen, aber auch des Seminar- und Projektangebots genutzt werden sollten, war es auch unser Anliegen überhaupt Praxiskontakte zu interessierten Schulen oder anderen Personen und Initiativen aufzubauen, die sich um gute, gelingende Konzepte des kreativ-literarischen Schreibens bemühen (s. auch unsere Pressemeldung vom 04.12.2023).

Entsprechend engagierten wir uns mit unserem Thema des kreativ-literarischen Schreibens an Schulen auch um Vernetzung und öffentliche Aufmerksamkeit: Wir luden Menschen mit Expertise in das Seminar und organisierten – in Kooperation von Bergischer Universität und Literaturhaus Wuppertal – jeweils auch eine öffentliche Veranstaltung mit ihnen. Drei Termine waren das: Einer im Dezember mit Farwa Ahmadyar & Artur Nickel, die ihre Projekte und Erfahrungen mitbrachten, Jugendliche des Ruhrgebiets bzw. Kinder einer Essener Grundschule zum literarischen Schreiben einzuladen. Nach dem Seminargespräch gab es dann ein von Michael Serrer moderiertes Podiumsgespräch in der Zentralbibliothek in Wuppertal Elberfeld. Darüber möchte ich hier (gleich) noch rückblickend berichten. Zwei weitere Begegnungen wurden dann noch im Januar umgesetzt: mit Hanns-Josef Ortheil und mit Sabine Burkhardt und Kathrin Schadt von POEDU.

Hier aber nun (in aller Kürze): Was war und ist für mich besonders bemerkens- und hervorhebenswert an der „Essener Jugendanthologie“ (Artur Nickel) und des Schreibprojekts an der Maria-Kunigunda-Schule in Essen Karnap (Farwa Ahmadyar, HIER der Link zur Verlagsseite des entstandenen Buches)?

Zuallererst einmal die Überzeugung, die Farwa und Artur ihren Schreibangeboten zu Grunde legen: das Kinder und Jugendliche etwas zu sagen haben und dies auch gerne schreibend tun –  wenn sie den Raum und die Freiheit bekommen, das auf ihre Weise zu tun. Bei der Essener Jugendanthologie dienen dazu die offenen Themenstellungen (aktuell – für das Jahr 2024 – lautet sie beispielsweise „Zwischen meinen Stühlen“, LINK zum Direkt-Download des Flyers) und – mir in der Person Artur Nickels glaubhaft begegnende – Einladung: „Schreibe was du willst: […] Erzähle, erfinde, berichte, dichte. Schreibe in der  Sprache, in der du dich zu Hause fühlst.“ Selbstverständlich wird dann für das  Buch ausgewählt und – sorgsam-umsichtig – lektoriert, nicht alles wird veröffentlicht und nicht alles unter dem ‚echten‘ Namen. Aber, und das zeigten mir die Blicke in das Buch und die Lesungen von Farwa Ahmadyar, die selbst mehrfach in den Essener Jugendanthologien veröffentlichte, Anliegen und Gestus der letzten publizierten Bücher ist die authentische Äußerung von Jugendlichen zu den Themen, Fragen und Antworten, die sie umtreiben, und die mit den Anthologien zugleich als Nachzulesen und Lesenswert präsentiert werden. Da es sich bei den Essener Jugendanthologien um eine offene Ausschreibung handelt, sind sie allerdings eher als ein zusätzliches, freiwilliges und v.a. außerschulisches Schreibangebot einzuordnen – auch wenn Artur Nickel, als ehemaliger Lehrer, auf die bestehenden und nicht nur von ihm – früher – genutzten Möglichkeiten verwies, eine schreibende Auseinandersetzung mit dem aktuellen Anthologie-Thema (oder auch Impulsen aus anderen Wettbewerbe) in den Unterricht zu integrieren.

Von einem schulischen Schreibangebot, das zum Jahresbeginn 2020 (unmittelbar vor ‚Corona‘) an der Maria-Kunigunda-Schule in Essen Karnap stattgefunden hat, konnte dagegen Farwa Ahmadyar berichten. In ihrer Rolle als Pädagogin an der Schule warb sie für die Idee eines Schreibtags für alle 350 Schüler:innen, also verpflichtend für jede:n und als Teil des – projektförmig geöffneten – Unterrichts. Ähnlich wie bei der Essener Jugendanthologie war das zentrale Anliegen, den Schüler:innen Räume zu öffnen bzw. die Gelegenheit und Freiheit zu geben, sich über sich und die eigenen Sichtweisen zu äußern – dabei einerseits zu üben, passende Worte für ihre Eindrucke, Gefühle oder auch Fantasien zu finden, andererseits aber zu beweisen, dass ihnen – das in einer beindruckenden Weise – schon jetzt gelingt. Für den Schreibtag wurde, so erzählte Farwa anschaulich, die gesamte Schule umgestaltet – es wurden thematische Schreibinseln geschaffen (mit einer passenden kreativen Ausstattung), zwischen denen die Kindern umherwandern und wo sie sich niederlassen konnten, um dort – so lange wie für sie richtig – zu schreiben. Überraschend und begeisternd (aber dann auch sofort einleuchtend) war für mich die Problemlösung für die noch begrenzten Schreibfähigkeiten der Kinder z.B. in der 1. Klasse: In Kooperation mit einer benachbarten weiterführenden Schule bekamen die Schulanfänger Assistent:innen (Schüler:innen einer 5. Klasse), die sie an diesem Tag begleiteten und sich die zu schreibenden Texte diktieren ließen. Gut einfühlen und amüsieren konnte ich mich in die Begeisterung der (kleinen) Kinder, ihr Hochgefühl, ihre Freude an der geschenkten Macht, wenn sie sich zum Diktat in einen Sitzsack fläzten, und den älteren Kindern vorsagten, was sie zu schreiben hätten … Oder nein, doch nicht! Noch einmal anders.  Bitte streichen. Und jetzt so … Gerade dieses kooperative – für den anderen – Schreiben war ein AHA-Moment für mich: Ja, natürlich – wieso ermöglichen wir nicht auf diese Weise viel öfter und letztlich allen, eine Stimme zu haben bzw. diese schriftlich einzubringen. Die Angst, die bloß diktierenden Autor:innen könnten so abhängig werden und abhängig bleiben von den aufschreibenden Helfer:innen scheint mir unbegründet: Irgendwann kommen auch die Kleinen in das Alter die größeren zu sein und die Schreibaufgabe zu übernehmen … eine ähnliche Struktur wie der Generationenvertrag bei der Rente, scheint mir, mit einem wesentlichen (guten) Unterschied: Hier erhalten die für das Glück der anderen Arbeitenden, die positive Leistung zuerst (als die jüngere, bedürftige Generation) und müssen / sollen sich erst später, als älter Gewordene, dafür bei den dann Jüngeren auf gleiche Weise revanchieren. Ein gute Übung und Erfahrung scheint mir das in Solidarität – die ich mir nicht nur für das kooperative kreativ-literarische Schreiben als empfehlenswerten Ansatz vorstellen kann.

Für mich zumindest war die Begegnung mit Farwa Ahmadyar und Artur Nickel eindrücklich und inspirierend: Ja, es macht Sinn eher Gelegenheiten zum Schreiben zu geben und das Schreiben als Tätigkeit möglichst einfach und hürdelos zu gestalten, als Kinder und Jugendliche mit bestimmten Erwartungen, Regeln und (letztlich) Bewertungskriterien zu konfrontieren, die ihnen womöglich helfen und Struktur geben (sollen), aber zugleich – für einige, sicher nicht für alle – dann auch die Erfahrung erzeugen und bestärken, diese Erwartungen, Regeln und Kriterien nicht zu verstehen, sie überhaupt erst verstehen zu müssen, um ihnen folgen zu können, und schließlich ihnen nicht zu genügen.