Hanns-Josef Ortheil als Impulsgeber für „kreativ-literarisches Schreiben an Schulen“ – Ein Bericht von Matthias Rürup

12. Juni 2024

Gestern war wieder Seminar, die vierte Sitzung im Sommersemester, vierstündig via ZOOM. Zusammen mit Kathrin Schadt vom POEDU hatte ich einen Markt der Möglichkeiten organisiert. Anbieter:innen von Werkstätten und Kursen des kreativ-literarischen Schreibens waren aus der ganzen Republik zugeschaltet, aus Halle an der Saale, Berlin, aus dem Bahnhof von Heidelberg, um mit den Studierenden darüber zu sprechen, was es alles an Formen und Varianten gibt, Impulsgeber:in und Wegbegleiter:in beim kreativ-literarischen Schreiben zu sein. Dabei ist mir noch einmal dringlich klar geworden, dass ich über die Seminargäste des letzten Semesters immer noch etwas schreiben wollte. Vor allen Dingen über Hanns-Josef Ortheil wollte ich noch berichten, der uns am 17. Januar 2024 im Seminar besuchte und am 18. Januar in der Citykirche – vor vollem Haus – aus seinem Roman „Der Stift und das Papier“ las. Also mache ich es gleich, jetzt, heute –sonst ist auch dieser Moment vorbei.

Zuallererst möchte ich noch einmal meinen Dank bekunden. Es ist keine Selbstverständlichkeit und auch nicht erwartbar, dass sich ein Gast so aufmerksam und offen-intensiv auf unser Anliegen einlässt, dass kreativ-literarische Schreiben an Schulen zu stärken. Ernsthaft ist das Wort, das für mich am besten die Haltung beschreibt, die uns Hanns-Josef Ortheil entgegenbrachte: Ernsthaft interessiert an der Sache, dem Schreiben, ernsthaft interessiert am Seminar und seinem Thema, ernsthaft interessiert an den Studierenden, als Menschen – mit Fragen und ihren eigenen Zugängen – auf dem Weg und ernsthaft-aufmerksam für das Publikum, sein Publikum in der Citykirche am Abend darauf. Wenn man Hanns-Josef Ortheil als Autor, Lehrender des kreativen Schreibens und Gründer des Hildesheimer Studiengangs dazu, und vor allem als Person kennt, die in seinem überwiegend autobiografisch-autofiktionalen Werk selbst sehr sichtbar ist, ist diese interessierte Ernsthaftigkeit wohl gar nicht so überraschend. Ich, so muss ich zugeben, habe ihn erst im Rahmen des Seminars (genauer) kennengelernt und (glaube ich) verstanden. Dass sein ganzes Leben ein nicht nur be-, sondern vor allem erschriebenes Leben ist, ein Leben, das erst in und durch das Schreiben als fortdauernde, beständig begleitende Tätigkeit zu diesem Leben wird. Wobei Schreiben dann erst einmal ‚nur‘ heißt: notieren, schriftlich-sprachlich festhalten, was passiert, ohne besonderes literarisches oder publizistisches Anliegen. Nur getragen vom Wunsch der Dokumentation, des Übersetzens des Erlebten in Beschreibungen, um so viel bewusster, genauer, intensiver zu verstehen und zu erleben, was einem da alles, ständig begegnet und passiert… Wenn eine Person beispielhaft für das nicht zuletzt im Grundschullehrplan NRW (2021, 11) dokumentierte Anliegen steht, die Kulturtechnik des „Schreibens als persönlichen Gewinn zu erfahren“, dann Hanns-Josef Ortheil. Entsprechend viel hatte er uns Anregung und Hinweis mitzugeben.

Dass ich seine Impulse als Hochschullehrer v.a. im Studiengang für Literarisches Schreiben (und damit verbundene Arbeitsfeldes wie Kulturjournalismus und Lektorieren) hier nur summierend-knapp wiedergebe, ist vor allem meinem Wunsch geschuldet, die zweite Perspektive (Hanns-Josef Ortheil als Kind, das angeleitet durch seine Eltern das Schreiben für sich als Lebenszentrum entdeckt) besonders hervorzuheben. Deswegen nur kurz: Für mich besonders eindrücklich war die Schilderung Hanns-Josef Ortheils wie er die Textwerkstätten für Autor:innen auf dem Weg zur Professionalität (für Studierende seines Studiengangs also) gestaltet hat. Statt – wie sonst verbreitend üblich – sich kommentierend-räsonierend über die Textentwürfe der anderen auszubreiten (mehr oder weniger moderiert und aufgefordert, die Begründungen für eigene Urteile offenzulegen), hat er eine Struktur und Haltung des Lektorats eingeführt: Die Aufgabe der Studierenden sei, möglichst konkrete Empfehlungen zur Verbesserung an den Texten der anderen auszuarbeiten, die der Intention und der persönlichen Stimme, der gewählte Form oder auch Nicht-Form der Autor:in entsprechen sollten und nicht den persönlichen Vorlieben und Ideen, was sie hier stattdessen geschrieben hätten. Für mich überzeugend war, dass diese – letztlich – kleine Verschiebung der empfohlenen Kommunikationssituation bei Textwerkstätten genauer und vor allem konstruktiv-produktiver erfasst, was es heißt über der Besprechung von Texten der eigentlichen Sache zu dienen (und nicht der persönlichen Gier nach Anerkennung oder konkurrierenden Durchsetzung im Kreis der zum Studiengang Auserwählten als besonders talentiert): Die Texte und die Autor:innen müssen durch das Feedback eine Chance, eine Vorlage dafür bekommen, aus sich heraus – im eigenen Sinn – besser zu werden. Der zweite Impuls, den ich von Hanns-Josef Ortheil als Hochschullehrer mitnahm, hängt damit eng zusammen: Das für mich glaubhaft-authentische Bemühen den angehenden Autor:innen gerecht zu werden, ihnen auf ihrem eigenen Weg und das heißt vor allem nach innen, zur eigenen Quelle des eigenen Schreibens, beizustehen, sich klar zu werden, wie nur ‚ich‘ schreibe und schreiben kann, und dadurch eben auch zu klären, ob das für eine (lebenslange) Berufstätigkeit als Autor:in reicht, freischaffend, auf sich selbst angewiesen, aber auch eingebettet-abhängig von einem Betrieb und Markt. Für den Lehrenden, für Hanns-Josef Ortheil, bedeutet dies (in meiner intuitiven Übersetzung beim Zuhören) die Bereitschaft und Willen‚ in den Kopf der angehenden Autor:innen einzudringen, ihre ganze Biografie, ihre ganze Existenz wahr- und ernst zunehmen und anzufragen. Verbunden – natürlich – mit der Überzeugung, dass auch zu können: So empathisch-sensibel zu sein, um schon im Bewerbungsgespräch zu erahnen, wie lebendig-eigen die Bewerber:innen sind, wie kraftvoll die ihnen selbst noch unbekannte innere Quelle ihrer Schreibens, um so zu einer Auswahlentscheidung zu kommen, wer für die begrenzten Studienplätze zu bevorzugen sei. Oder auch fähig pädagogisch taktvoll zu sein, dann, bei der Begleitung der ausgewählten Studierenden in ihrem Studium: Sie nicht mit den eigenen Wahrnehmungen und Deutungen zu bedrängen, sondern ihnen interessiert-ernsthaft (persönlich-humorvoll) beizustehen, auf ihrer selbstbestimmt-eigenen Reise mit genau den passenden und passend-herausfordernden Impulsen zur rechten Zeit und genau der passenden Zurückhaltung und einem selbstbestimmt Gewährenlassen in den meisten anderen Moment. Für mich – als Erziehungswissenschaftler und immer mehr auch: Pädagogen – war das  eine inspirierend-bestärkende (herzerwärmende) Begegnung mit jemandem, der scheinbar ähnlichen Überzeugungen folgt. Und entsprechend (ebenfalls? – hier bin ich vielleicht vorsichtiger oder weniger selbstbewusst) öfters fremdelt und aneckt gegenüber Vorstellungen einer mehr objektiviert-standardisierten Bewerber:innen-Auswahl oder Studiengangsgestaltung. Denn was diese – heute verbreitete – Vorstellungen ja prägt, ist gerade eine nivellierend-skeptische Haltung gegenüber den persönlichen (subjektiven) Urteilen hervorgehoben-besonderer Expert:innen, die sich kriteriengeleitet nicht gänzlich nachvollziehen oder gar reproduzieren (validieren) lassen.

Darüber, wie eine solche – aus meiner Sicht geradezu klassisch-geisteswissenschaftliche oder sogar reformpädagogisch inspirierte – Idee für Lehrgänge angehender Autor:innen in die heutige Zeit und die heutige Praxis von Universität und Studium passen, ließe sich sicher gut und ergiebig streiten: Ausgang offen.

Bemerkenswert an meiner Begegnung mit Hanns-Josef Ortheil nicht nur als Hochschullehrer, sondern gerade auch als Autor, der in seinen Romanen über sein eigenes Leben und Aufwachsen differenziert-sensibel Auskunft gibt, war aber, dass es zum Verständnis seiner Ideen und Haltungen diesen erziehungswissenschaftlich-reformpädagogischen Überbau nicht braucht. Es reicht das Wahrnehmen und – lesende – Nacherleben davon, wie er zu seinem Schreiben und – zunehmend – zum Bewusstsein seiner eigenen, drängend-unaufhörlichen Kraftquelle gekommen ist, Schreiben zu wollen, nein, Schreiben zu müssen. In seinem 2017 erschienenen Roman „Der Stift und das Papier“ erzählt er genau davon und las aus ihm am 18 Januar in der Citykirche Wuppertal.

Das, dieses Leben, diese eigentümliche Lebenserfahrung, hat mir Hanns-Josef Ortheil vor allem mitgegeben – als Impuls zum Nach- und Überdenken, was heißt, kreativ-literarisches Schreiben in Schule fördern zu wollen. Zuallererst ist dies ein Impuls zu Vor- und Umsicht, zu einer Mäßigung der Hoffnung. Denn nicht die Schule hat Hanns-Josef Ortheil das Schreiben beigebracht und ihm das Schreiben zum Lebensinhalt werden lassen. Es waren seine Eltern, sein Vater zuerst, später auch die Mutter. Keine professionellen Lehrer:innen, sondern ‚einfach‘ Menschen mit einer regen-nachfragend-nachspürenden Liebe zu den Dingen um sich herum, mit denen sie sich eigenständig-eigen, oft dann auch abgrenzend-ablehnend auseinander setzten. Und wichtig auch: Zwar haben ihn seine Eltern unterrichtet (also sich Zeit genommen und Dinge bzw. Gesprächsthemen so – z.B. auch zu Aufgaben – arrangiert, dass eine bestimmte, zu lernende bzw. zu übende Sache im Fokus stand), aber gerade nicht nach Lehrbuch oder orientiert am üblichen Lehrstoff und Lehrgang. Ausgangspunkt, so übersetzte ich für mich die Beschreibungen Ortheils in die mir vertraute Fachsprache, war immer der eigene persönliche Zugang und das eigene Verständnis des zu lehrenden Phänomens. Für den Vater war Schreiben so zunächst einmal eine materialgebundene und materialabhängige Tätigkeit des möglichst exakten Nachzeichnens von vorgegebenen Formen. Basis und erster Schritt zum Schreiben war damit eine Kenntnis bzw. forschende Zur Kenntnisnahme der Beschaffenheit von verschiedenen Papieren und Stiften, um die für bestimmte Zwecke jeweils am besten Geeigneten unterscheiden und wählen zu können. Oder auch ein erst einmal nur Formen nachzeichnen können. Das lehrte Ortheils Vater dann im Großformat und nicht in der zeilenförmigen Verkleinerung und mit Hilfslinien erleichterten Variante des schulischen Schreibhefts, in einer Größe, bei die Abweichung von der geraden Linie oder Rundung nicht nur offensichtlicher und schwerer zu vermeiden, sondern dann eben auch umso akribischer zu üben waren. Dieses Muster, einer an der eigentlichen – lebenspraktisch auffindbaren, aber auch von innen heraus verstandenen – Sache orientierten Auswahl von Aufgaben, setzt sich kontinuierlich fort: Vom Sammeln interessanter Wörter, dem Beschriften von Bildern mit eigenen Gedanken oder den Beginnen eines Journals mit täglichen Notizen zum Wetter und Vorhaben, dann mehr und mehr angereichert, vertieft durch Eindrücke oder auch Geschichten. Alles sehr fokussiert und orientiert am Tun, schrittweise Nachmachen, schrittweise variieren. Und zunehmend verbunden mit einer gemeinsamen Klärung, Besprechung, ob und auf welche Weise, das Gefundene, das Notierte bemerkens- und bewahrenswert sei oder nicht, typisierend eingeordnet oder auch genauer bzw. auf verschiedene Weise (je nach Kontext und Zweck) beschrieben werden könne. Für mich ist dies lesbar als eine Schulung der eigenen – sachbezogenen – Urteilsfähigkeit: Wann knistert es in einem Dialog, wann ist eine Geschichte gut?

Auch wenn Ortheil diese, seines eigene Aufwachsen und Zugang finden zum Schreiben als etwas einzigartig-außergewöhnliches beschreibt (nicht wiederholbar geprägt durch die eigene besondere Anschlussfähigkeit an das Schreiben als Praxis oder die besonderen Persönlichkeiten seiner Eltern als intuitiv-geniale Pädagog:innen), erkenne ich hier Anschlüsse an didaktische Entwürfe von Martin Wagenschein oder auch Andreas Gruschka. Ganz ähnlich finde ich hier, den aufmerksamen Rückbezug auf das eigentliche Phänomen (unabhängig von der fachwissenschaftliche Aufbereitung und Einordnung) oder auf die lebensnah-ursprünglichen Problemstellungen, aus denen dann das Schreiben als Form der Dokumentation, Selbstvergewisserung oder auch Kommunikation über Zeit und Räume hinweg entstanden ist. Und ebenfalls ganz ähnlich ist der Ansatz des dialogisch-hinterfragenden Entwickelns eines sachgemäß-vertiefenden Verständnis der forschend untersuchten Gegenstände aus dem eigenständig prüfenden, begriffssuchenden und- findenden Bemühen der Schüler:innen, die zum selber Denken und Urteilen aufgefordert sind. Selbst in den nach der ersten PISA-Krise 2003 initiierten Modellversuchen von Biologie und Chemie im Kontext bzw. Sinus für das Fach Mathematik lässt sich ein ähnlicher Ansatz des Neudenkens eines Schulfachs von konkret wahrnehmbaren und gemeinsam mit den Schüler:innen erschließ- und diskutierbaren Basiskonzepten finden. Oder auch in den aktuellen Konzepten einer resonanzpädagogischen Fachdidaktik, bei denen das spannungsreiche „Knistern im Klassenzimmer“ bei der Beschäftigung mit einem Lehrinhalt gestaltet werden soll. Ortheil steht mit seiner Erfahrung, seiner Biografie keineswegs allein. Und auch nicht allein mit der Einschätzung, dass das mit der Schule, wie sie bisher gedacht und organisiert wird, nicht wirklich passt. Dass sie reformiert, geöffnet, verändert werden muss.

Für unser eigenes Seminar und Projekt des „Kreativ-literarisches Schreiben an Schulen“ hatte Hanns-Josef Ortheil schließlich, dafür hatten wir ihn ja eingeladen und direkt im Seminar gefragt, aber auch konkrete Empfehlungen: Wie auch sein Vater damals, nicht mit Schreibaufträgen zu beginnen, den üblichen Übungen und Spielen der Textproduktion, sondern erst einmal mit dem Sammeln von Bildern – echten Bildern, die es verdienen, ausgeschnitten (oder heutzutage vielleicht: ausgedruckt) und aufgeklebt zu werden in eine – wertige – Kladde (A3 Querformat) mit weißen Blättern. Und dann diese Bilder malend und beschriftend zu ergänzen: mit Hervorhebungen oder Einfällen, was hier persönlich hervorhebenswert sei. Und das, dieses Sammeln, Beschriften einfach eine Zeitlang zu tun, bis es sich als Routine gefestigt hat.  Und erst dann mit Blick auf diese Sammlung Besonderes auszuwählen … Szenen, Dialoge oder auch Person, die für eine Geschichte, die mit der Zeit entstehen soll, gutes Material wären. Übersichten und Mindmaps zu bauen mit verschiedenen Szenen und Personen, um Varianten gedanklich-zeichnerisch durchzuspielen, bis sich eine Entscheidung – ein Favorit, eine Geschichte, die erzählt werden möchte, hervortut und aufdrängt. Und die dann nur noch runtergeschrieben (zusammengefügt) werden muss, weil ja alles schon da ist, die Bilder der Personen und Orte, ihre Beschreibungen und die knisterende Dialoge, die Dramen zwischen ihnen.

Vorgeschlagen hat Ortheil uns also eine langsame Stetigkeit: eine Viertelstunde nur im Unterricht mehrmals die Woche, die sich dieser immer weiter gefüllten Kladde, dem eigenen Werden einer Geschichte widmet. Also eine Schreib-Viertelstunde ähnlich wie sie als Lese-Viertelstunde oder Demokratie-Viertelstunde ebenfalls gerade den Schulen nahegelegt wird (und als sehr erfolgsversprechende Form des Einübens empirisch getestet ist). Im Ansatz widerspricht es zwar unserem aktuellen Konzept, die Studierenden in unserem Seminar eher auf zeitlich begrenzte Aktivität außerhalb oder ergänzend zum üblichen Unterricht hin zu orientieren. Aber perspektivisch – nicht in diesem oder im kommenden Semester, sondern vielleicht in einem Jahr hätte ich groß Lust mit den Studierenden dann, eine solches Halbjahresvorhaben mit Kladde und schrittweisen Arbeitsaufträgen von vielen Schreib-Viertelstunden zu durchdenken und zu planen und dann mit interessierten Schulen und Lehrkräften praktisch auszutesten. Das hätte ich richtig Lust dazu!

Was für anregende Impulse, was für eine mir persönlich wichtige Begegnung: Danke, Hanns-Josef Ortheil.

Die Text von Matthias Rürup wurde zuerst am 09.06.2024 auf seinem eigenen Blog als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal veröffentlicht.